Der Übersetzer (Homo sapiens translator) gehört zur Spezies Mensch aus der Familie der Menschenaffen (Hominidae). Mit dem gemeinen Menschen (Homo sapiens) verbindet ihn eine lange Evolutionsgeschichte. Im Laufe der Jahrhunderte hat er jedoch gewisse Eigenarten entwickelt, die ihn deutlich von seinen übrigen Artgenossen unterscheiden.
Merkmale
Ebenso wie die übrigen Menschen besitzt auch der Übersetzer im Allgemeinen einen aufrechten Gang. Allerdings ist dieser selten festzustellen, da er aufgrund seiner für die Nahrungsbeschaffung erforderlichen Haupttätigkeit meist sitzend anzutreffen ist. Dies wiederum befähigt ihn unter anderem dazu, unangenehme Situationen – wie Preisverhandlungen oder Kundenakquise – langfristig auszusitzen.
Das Gehirn des Übersetzers, das vorwiegend benötigt wird, um kreativ tätig zu werden – insbesondere dann, wenn ausgangssprachliche Texte eine besonders mangelhafte Qualität aufweisen – neigt grundsätzlich zu einer etwas stärkeren Ausprägung der rechten Gehirnhälfte. Dies hat zur Folge, dass der Übersetzer seine Kreativität auch an den Stellen einzusetzen weiß, an denen Artgenossen anderer Untergruppen, wie beispielsweise Buchhalter (Homo sapiens calculator) oder Kaufleute (Homo sapiens mercator), eher auf die linke Gehirnhälfte zurückgreifen, um zukünftigen Mangelerscheinungen vorzubeugen.
In der linken Gehirnhälfte des Übersetzers hingegen ist insbesondere das Sprachzentrum hervorragend entwickelt. Dies dient ihm unter anderem dazu, Fremdsprachen zu erlernen, ist jedoch auch hilfreich bei der Entwicklung von Euphemismen, die die eigene Situation beschönigen und von Missständen ablenken sollen. Zu nennen wären hier Ausdrücke wie: „gesicherter Lebensunterhalt“, der häufig eine Situation kennzeichnet, in denen der Übersetzer auf die Einkünfte seines Partners oder anderer Familienmitglieder zurückgreift. Ein weiterer beliebter Euphemismus bezeichnet die eigene Nahrungsbeschaffung als „Hobby“, womit geschickt von der Mühseligkeit und der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung abgelenkt wird, die dieser Tätigkeit meist beschieden sind.
Verbreitung und Lebensraum
Der Übersetzer hat sich im Laufe der Jahrhunderte über die gesamte Erde ausgebreitet. Bereits vor über 2000 Jahren sollen erste Exemplare im Alten Ägypten anzutreffen gewesen sein. Im Allgemeinen hält sich der Übersetzer am liebsten in Räumen auf, die bis zur Decke mit Büchern vollgestopft sind. Daneben benötigt er heutzutage vor allem einen Computer. Einzelne Exemplare ernähren sich zudem fast ausschließlich von Kaffee und Zigaretten. Auch Rotwein ist in Übersetzerkreisen stark verbreitet. Meist ist der Übersetzer eher ein Einzelgänger. In seltenen Fällen wurden jedoch auch schon ganze Übersetzerrudel angetroffen, die dann insbesondere daran zu erkennen sind, dass die gesamte Gruppe über keine homogene Sprache zu verfügen scheint. Stattdessen wird der unvorbereitete Besucher mit Sprachfetzen aller Art konfrontiert, die ihn ununterbrochen an den Turmbau zu Babel erinnern.
Er lebt zurückgezogen und ist insgesamt nur wenig anspruchsvoll. Am pflegeleichtesten in dieser Hinsicht ist hier übrigens der Literaturübersetzer (Homo sapiens translator librorum). Versucht der gewöhnliche Übersetzer, auch Fachübersetzer genannt, im Allgemeinen noch seine Einkünfte in wenngleich bescheidenem Rahmen zu steigern, so gibt sich der Literaturübersetzer meist mit Honoraren zufrieden, die weit unter dem Existenzminimum liegen. Allerdings ist es dem Verband der Übersetzerschützer (VdÜ) im vergangenen Jahr endlich gelungen, eine gemeinsame Vergütungsvereinbarung mit einigen Verlagen auszuhandeln, die seinen Schützlingen eine angemessene Vergütung gewährleisten soll.
Pflege und Krankheiten
Die Pflege und Haltung des Übersetzers gestaltet sich, aufgrund seiner allgemeinen Genügsamkeit, weitgehend einfach. Allerdings sind hier einige arttypische Krankheiten zu beobachten. Am meisten verbreitet ist die sogenannte Korrektoritis. Diese äußert sich insbesondere in einer krankhaft übersteigerten Wahrnehmung von Rechtschreib- oder Ausdrucksfehlern.
Eine weitere, gelegentlich auftretende Krankheit bei Übersetzern ist der spontane Analphabetismus. Dieser macht sich insbesondere bei Stellenangeboten in Internetforen häufig bemerkbar. Von der Krankheit befallene Exemplare sind dann spontan nicht mehr dazu in der Lage, die genannte Stellenbeschreibung korrekt zu lesen und neigen dazu, genau das Gegenteil von dem zu tun, was darin von ihnen verlangt wird. Ebenfalls in Foren häufig festzustellen ist die sogenannte Recherchelähmung, die den Übersetzer daran hindert, für seine Tätigkeit erforderliche Recherchen selbst durchzuführen, so dass er gezwungen ist, auf die mildtätige Hilfe seiner Artgenossen zurückzugreifen.
Artenschutz
Der Übersetzer ist – aufgrund mangelnder Anerkennung seiner einzigartigen Fähigkeiten – in weiten Teilen der Industrie vom Aussterben bedroht. Auch der Rückgriff auf Tamagoogles, die anstelle echter Übersetzer gehalten werden, führt dazu, dass viele Unternehmen der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Daher möchten wir hiermit zum Artenschutz für Übersetzer aufrufen – nicht nur im Interesse der Übersetzer selbst sondern auch und vor allem im Interesse der Wirtschaft.
Sympathiebezeugungen werden hier gerne angenommen.
Der vorstehende Text ist reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Personengruppen sind selbstverständlich rein zufällig. Die Zeichnung oben ist von Joanna Alvermann (2015), in Anlehnung an den Armen Poeten von Carl Spitzweg.
Sehr schöne Beschreibung!
„Am meisten verbreitet ist die sogenannte Korrektoritis.“
Ich fühle mich ertappt … und bitte um Beseitigung der Redundanz („Im Allgemeinen ist er eher ein Einzelgänger, …“ und kurz danach „Meist ist der Übersetzer eher ein Einzelgänger.“.) 🙂
Danke für den Hinweis – ist korrigiert!
Hallo Andrea,
lange gesucht. Jetzt ist absolut klar – ich bin an Korrektoritis erkrankt.
Und ich bin ganz sicher nicht alleine.
Weiter so!
silvia
Sirje Silvia Piir
Deutsch – Estnisch – Deutsch
Technische Übersetzungen
Sprachdienstleistungen & Terminologieservice
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Oh ja, ich leide auch an dieser Krankheit!
Der aufrechte Gang…
Es geht mir eindeutig besser seit ich einen Steh-Arbeitsplatz eingerichtet habe. Dies als Aufmunterung, den aufrechten Gang wieder häufiger zu praktizieren. Der Blutumlauf wird gefördert und die Sauertoff-Zufuhr des Gehirns ebenfalls. Es ist aber kein Heilmittel gegen Korrektoritis…
Ja, den Steh-Arbeitsplatz haben inzwischen schon so einige – ich habe mir dafür einen Hund zugelegt. Gegen Korrektoritis gibt es allerdings, soweit mir bekannt, bisher noch kein wirksames Heilmittel.